Wie alles begannEine wahre Geschichte von Sabine-Ulrike Claaßen-Spies Wir starten nun eine kleine Zeitreise, haltet euch fest, es geht los! Schon befinden wir uns wieder im Jahr 2003, im Jahrhundertsommer dieses neuen Jahrtausends. Es war so heiß, dass die Luft nicht mehr flimmern konnte, sondern gleich einer glühenden Wand alles zu erschlagen drohte, was sich in ihren Dunstkreis wagte. Ich hatte, wie unsere pubertären Kinder zu sagen pflegen, sturmfreie Bude, eine Woche lang! Allerdings war die Bude nicht von Eltern sondern von Kindern befreit, und gestürmt wurde sie auch nicht. Die Hitze hatte mir längst alle Energien und Sturmdränge aus den Knochen gebrannt. Träge schleppte ich mich täglich in das nahe gelegene Schwimmbad, in dem wir begünstigte Mitglieder waren, und ergatterte einen Stehplatz im seichtwarmen Wasser. Abends dann, wenn sich zumindest hin und wieder ein müdes Lüftchen regte, frönte ich meiner neuen elektronischen Leidenschaft. Ein Internetanschluss hatte den Weg zu mir gefunden, und nach anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten hegten wir eine gut funktionierende Dreierbeziehung. Der Computer,das Internet und ich. So saß ich auch an diesem Abend, es war ein Samstagabend, vor dem Computer. In Oppenheim tobte das von Eckhard so geliebte Weinfest, von dem Er allerdings an diesem Samstagabend noch nichts wusstest. Ich hatte lieben Freunden „Springin den Mund Happen“ serviert, und den fruchtigen Wein des Festes gekostet. Seit zwei Jahren lebte ich alleine mit meinen Kindern, und hin und wieder zwickte die Einsamkeit. Eine Wochenendbeziehung, eine Affäre, das wäre das Richtige für mich! Ein Hafen zum ausruhen, ohne Verpflichtungen! Der Wein hatte meine baptistischen Moralvorstellungen betäubt, und ich schaute unter der Rubrik Brieffreundschaften nach der Erfüllung meines Begehrens. „Herbertshäuser Bub“ flimmerte mir entgegen, ein Fritz, ein Läufer, auf der Suche nach netten Leuten! Nett und unverbindlich! So antwortete ich dem Fritz, nett und unverbindlich, und vielleicht etwas beschwingt durch der Reben-Frucht! Bald war er wieder da, der Herbertshäuser Bub, der den Fritz abgelegt, und den Eckhard groß herausgebracht hatte. Viele Gemeinsamkeiten fanden wir,und die Briefe wurden länger und länger, bis der gut getarnte Eckhard plötzlich entschwunden war, abgetaucht, am endlosen Horizont des Internets. Erwartungsfroh klinkte ich mich immer wieder ein, was bei meinem altersschwachen Computer einem Geduldsspiel gleich kam, frohlockte, wenn die nüchterne Stimme „Sie haben Post“, meldete, und löschte enttäuscht die Werbeprospekte. Fritz Eckhard Spies war und blieb verschwunden. „Wenigstens hätte er sich verabschieden können!“ dachte ich mir. „Auch das Internet verkraftet ein gewisses Maß an Höflichkeit!“ schrieb ich Ihm. Und das ich ihm ein gutes Leben wünsche, und das Tschüß sagen gar nicht so schwer, aber höflich sei. Somit hatte ich mir Luft gemacht, und den Buben an die Luft gesetzt, dachte ich. Er aber schnürte die Schuh und stählte die Tasten. Fast kleinlaut kam der Brief des viel beschäftigten Mannes bei mir an, der sich keinesfalls unhöflich oder gar als davon Schleicher entlarvt wissen wollte. Nein, die Rinder, die Kinder und die Arbeit hätten Ihn fern des Mediums gehalten, und nun wäre er wieder da, schrieb er, und wart wieder entfleucht. Ich nahm es hin, mein Pulver war verschossen, und gedanklich hatte ich mich schon von dem, mir doch etwas seltsam erscheinenden Mann aus dem Wittgensteiner Gefilde verabschiedet, bis der nächste Brief eintrudelte, der mir verkündete, dass Er zelten mit den Kindern, und Fahrrad fahren mit einem Freund war. Und jetzt hätte Er Wäsche gewaschen, aus weiß rosarot gemacht, und seine Kinder belustigt, ein ganzes Wochenende lang. Auch hatte die Wand des Bauernhauses einen Anstrich nötig, den er ihm verpasst, dabei aber von der Leiter in den Farbtopf gefallen sei, und außerdem hätte er beim Fahrrad fahren etwas zu stark gebremst, und dabei in hohem Bogen über den Lenker gesaust. Sein Leben zeigte sich mir nicht ungefährlich, und meines präsentierte ich ihm, gespickt mit all den Höhen und Tiefen, die meinen Biorhythmus am laufen hielten. Nun gab es keine Pause mehr. Wir schrieben uns morgens, abends und manchmal auch mittags. Ein Hauch anonymer Verliebtheit kitzelte uns. Dann hatte er ein Spiel ausgedacht, eine Beschreibung der Personen. Ich sollte ihnen beschreiben, innerlich, äußerlich und was mir sonst noch einfiel, und er wollte das gleiche mit mir tun. Der Gewinner hat einen Wunsch frei,schrieb er, und mir gefiel diese Idee. Also, beschrieb ich ihn! Sein Aussehen, Seine Art, Seinen Charakter, wie ich mir ihn vorstellte ,vielleicht war auch etwas Wunschdenken dabei, aber, was soll ich sagen, den Nagel auf den Kopf getroffen hatte ich allemal. ER hingegen straucheltest gewaltig, besonders an meinem äußeren Erscheinungsbild. Sehr groß, sehr dunkel und langhaarig, mit der Figur von Claudia Schiffer, huschte ich durch seine Fantasie, und ich dachte: Auwei! Nicht groß, zu diesem Zeitpunkt aber sehr rot, Haarfarbentechnisch gesehen, und kurzgeschoren, die längste Strähne bedeckte mit viel gutem Willen die Hälfte meiner Ohren, und sollten Claudia Schiffer und ich Gemeinsamkeiten haben, sind sie gewiss nicht im figürlichen Bereich zu finden. Ob ich ihn aus einem früheren Leben kennen würde, fragte er mich nach unserem Spiel. Ich bin nicht so, wie Du denkst,schrieb ich ihm, nach seinen model gleichen Ausführungen, die mir Magengrummeln bescherten. Ich hatte also gewonnen und somit einen Wunsch frei. Was wünscht man sich von jemandem, dem man seit Wochen schreibt, aber noch nie gesehen oder gehört hat? Ein Telefonat! Ich wünschte, von ihm angerufen zu werden! Er zeigtest dich angetan von dieser Idee, und am Sonntagabend, um einundzwanzig Uhr, wolltest er meinen Wunsch erfüllen. Ich erinnere mich noch genau andiesen Sonntag. Es war ein milder Tag, AnfangSeptember. Ich hatte mit meinen Kindern einen Fahrradausflug geplant.Wir wollten Störche suchen! Ja, in Rheinland Pfalz gibt es sie noch, die vom aussterben bedrohten Dachsitzer! Im nahe gelegenen Naturreservat können sie bestaunt werden. So fuhr ich mit vier Kindern, eines hatte ich mir ausgeliehen, den Rhein entlang. Die Fähre brachte uns sicher und trocken ans andere Ufer, wo wir allerdings nur leere Nester vorfanden, die schlauen Vögel hatten den Wochenendtouristen einSchnippchen geschlagen. Beim Fahrrad fahren bekommen die Gedanken Flügel, und ich wollte sie gern zu Dir fliegen lassen, und in Vorfreude auf den Abend schwelgen. Aber meine eigenwillige Gruppe bremste den rosaroten Gedankenflug und forderte mich voll und ganz. Einer fuhr zu schnell, der Nächste zu langsam, der Dritte hatte Durst, und der Vierte keine Lust mehr. Der Keine Lust Haber, und viel Diskutierer war mein Sohn Sören, den ich kurzzeitig damit beeindrucken konnte, das ein ferner Bekannter mir erzählt habe, dass er mit seinem Sohn siebzig Kilometer an einemTag radle! Der ferne Bekannte war natürlich er, und dass seine Tochter immer nur bis zur nächsten Eisdiele mit fuhr, hatte ich ihm aus pädagogischen Gründen verschwiegen. Wie gesagt, kurz ließen ihn die siebzig Kilometer stramm in die Pedale treten, sehr kurz, dann bekamer wieder einen Burnout Schub, der sich in einer heißen Diskussion entlud. Hitzige Dispute, langatmiges,stimmlautes antreiben, ließen uns endlich den letzten Berg erklimmen, und in unserem windschiefen Häuschen stranden. Allerdings waren meine Stimmbänder stark beansprucht, und brachten nur noch ein Krächzen zu Stande. Kein verheißungsvoller Einstieg für ein erstes Telefondate! Aber noch war es nicht so weit. Müde Kinder möchten nicht ins Bett, weil sie in Wirklichkeit gar nicht müde sind. Sie haben Bärenhunger, Riesendurst, eine Blase am Fußzeh, eine andere am Popo, weil sie so lange auf dem Sattel sitzen mussten, ohne Gutenachtgeschichte können sie überhaupt nicht einschlafen und zurToilette müssen sie auch dringend. Ach ja, Zähne putzen nicht vergessen! Und jetzt wird geschlafen! Endlich, endlich kehrte Ruhe ein, zumindest äußerlich! In mir breitete sich ein Kribbeln aus. Ameisen schienen über meine Haut zu krabbeln, und unruhig lief ich die Küche hinauf, und die Küche hinab. Ich stierte auf das Telefon, auf die Uhr, die nicht weiter rücken wollte, sich aber schließlich doch dem Gesetz der Zeit unterwerfen musste, und fast widerwillig, boshaf twar sie geworden, diese Uhr, ihre Zeiger weiter schob, bis der Kleine auf der neun und der Große auf der Zwölf stand. Nein, der Grosse hatte es noch nicht ganz geschafft. Aber jetzt! Einundzwanzig Uhr! Genau jetzt müsste das Telefon klingeln! Aber das Telfon trotzte standhaft seiner einzigen Bestimmung, zu klingeln. Zwei nach neun, fünf nach neun, und das Telefon schwieg. „Ich benehme mich wie ein unreifer Teenager“, sagte ich mir. „Ob er nun anruft oder nicht, ist doch völlig wurscht“, auch das sagte ich mir. „Wurscht“, ist übrigens kein Schreibfehler, sondern ein Ausbruch meiner schwäbischen Wurzeln. Wurscht sollte es mir sein, wurscht war es mir aber nicht. Erschrocken zuckte ich zusammen,das Telefon klingelte. Hastig nahm ich ab, sammelte mich, und meldete mich. „Spies“, hörte ich am anderen Ende der Leitung. Er meldest dich grundsätzlich nicht mit Vornamen,sondern mit diesem kurzen, knappen „Spies.“ Spies war also das allererste Wort,das ich aus seinem Munde hörte. Spies, der Mädchenname meiner Mutter, der bei ihr scharf endete, während ihm die weiche Variante zu eigen ist. Wir waren gehemmt, hatten uns schon viele Briefe geschrieben, aber was sollten wir uns jetzt erzählen? Die Kinder, ein nie endendes Thema,mussten herhalten. Er erzähltest mir, dass ihm schreiende Leute, besonders Kinder anschreiende Leute, äußerst zuwider seien. Ich spürte Röte in mein Gesicht steigen, was er zum Glück nicht sehen konnte, und ich wollte nicht mit ihm über schreiende Menschen reden. So erzählte ich von einem gelungenen Fahrradausflug, und von den wackeren Kindern, die in ihrem zarten Alter zwanzig Kilometer gestrampelt seien, und nun friedlich schlummernd süße Träume suchten. Er zeigte sich beeindruckt, und wir redeten lange an diesem Abend. Wann wir denn wieder telefonieren wollen, fragtest er mich schließlich, und ich antwortete spontan :Heute in einer Woche! Briefe waren mir sicherer und vertrauter, umwoben von einer geheimnisvoll verklärten Wolke, wollte ich diesen Zauber so lange wie möglich aufrechterhalten. So schrieben wir uns weiter ,versicherten uns, wie schön das Telefonat gewesen sei, aber ob etwas mit meiner Stimme nicht in Ordnung wäre, wolltest Du wissen. Nein, die sei mitunter etwas heiser, liegt wohl an einer verkehrten Zwerchfellatmung! Am Freitagabend überrumpelte ich ihn mit einem spontanen Anruf, die Woche war noch nicht ganz vorbei,und er wirktest überrascht, hatte noch nicht mit mir gerechnet, freute sich über die Spontaneität, auch die Stimme hörte sich anders an, und wir telefonierten fast zwei Stunden lang, an diesem Abend und am nächsten Abend, und am übernächsten, und am darauffolgenden. Bald gehörte das abendliche telefonieren zu unserem Alltag, wie das tägliche Zähne putzen. Er brachte mich oft zum lachen. Seine Autogeschichten hatten es mir angetan. Was ihm doch mit dem Auto schon alles passiert war! Einmal wollte eu einen Döner holen, hatte sein Auto abgestellt, ist über die Straße geschlendert, kam mit triefenden, fett wabernden Dönern zurück, und wurde vom leeren Parkplatz empfangen. Stillstand ist Rückstand, dieser sein Grundsatz war deinem Auto in Blech und Reifen übergegangen. Begünstigt und beschwingt durch eine lose Handbremse und eine steile Hanglage, ist es kurzerhand ohne ihn weitergefahren! Oder die Geschichte, als er am Ende eines Arbeitstages in die Garage fuhr, und einen Anruf erhieltst.Technisch hoch visiert und immer auf dem neuesten Stand, konnte er ein Handy sein eigen nennen, als ich noch mit der Wählscheibe hantierte. Deshalb konnte ihn der Anrufer direkt im Auto erreichen, am aussteigen hindern, und zur Firma zurückordern, um ein aufgetretenes, schwerwiegendes Problem zu lösen. Sofort schaltete er den Rückwärtsgang, und fuhr zurück. Das mittlerweile ein Auto hinter ihm stand, ein spontaner Gast, hatte er nicht gesehen,konnte es aber dann deutlich hören. „Endlich ein Mann dem sein Auto nicht sein heiliges Blächle ist“, dachte ich, musste diese Meinung später allerdings revidieren, als ich eine Macke in seinen gepflegten VW fuhr, und ihn erblassen sah. Aber auch mein Alltag gebar Geschichten die unsere Telefonabende würzten. Da war zum Beispiel dieser Elternabend, zu dem die betreuende Grundschule einlud. Mein Sohn Sören besuchte bereits die zweite Klasse, und auch sein zweites Jahr in der betreuenden Grundschule hatte begonnen. Standort und Betreuer dieser Einrichtung hatten gewechselt, und deshalb sollte dieser Elternabend stattfinden. Als ich die neuen Räumlichkeiten betrat, fiel mir direkt ein halb heruntergerissener, nur noch an einem Faden hängender Vorhang auf, und das fand ich merkwürdig. „Die Kinder sind teilweise sehr wild“, wurden wir informiert. „Eines hing heute am Vorhang!“ Schlagartig hatte ich ein Bild des Vorhanghängers vor Augen, und schaute angestrengt zur Seite. Genauso angestrengt fixierte mich die Betreuerin, bis sich mein Wille ihren hypnotisierenden Blicken beugte, ich ihr ergeben in die Augen sah, worauf sie milde lächelnd flüsterte: „Sören hing heute am Vorhang!“ Der Wittgensteiner war aus meinem Alltag nicht mehr weg zu denken, aber nach wie vor hatten wir uns nicht gesehen. Das heißt, er hatte mich noch nicht gesehen, ich besaß bereits ein Bild von ihm, dass er mir, verpackt in einer neuen Spielidee,schickte. Es war eine Fotografie von ihm und seinen Freunden, aufgenommen bei ihrem Väter Kinder Urlaub, und ich sollte ihn erkennen, was mir mit Leichtigkeit gelang. Sein Haar, was davon noch übrig war, sei sehr blond und raspelkurz, das wusste ich. Nun hatten die Jahre auch an den Köpfen seiner Freunde genagt, und wallende Locken zeigten sich bei keinem, aber weizengold schimmerte nur einer! Er trugst ein blaues T-Shirt und vor ihm lag eine Schachtel Gaullious, meiner erwählten Marke, als ich noch Raucherin war. Dieses Laster hatte ich mir gerade mal wieder abgewöhnt, und nun lachten mir auf dem Bild, des mir etwas seemännisch düngenden Eckhards, die blauen Gaullios so verlockend entgegen, dass ich sie direkt kosten musste. Ja, die Süchte, getreten und ertränkt haben wir sie, leider aber noch nicht die passende Ruhestätte dafür gefunden, darum lassen wir sie an dieser Stelle lautlos unter denTisch fallen. Das Bild gefiel mir gut, ich kannte jede Nuance darauf, so oft hatte ich es mir angesehen. Was denn mit meinem Bild wäre ,fragtest er immer drängender und fordernder. Ja, da gibt es ein technisches Problem, erklärte ich Dir. Dass die große, schwarze ClaudiaSchiffer mir noch in den Knochen hing, behielt ich für mich. Aber Claudia Schiffer hin, ClaudiaSchiffer her, mein persönlicher Sherlock Holmes und Internetberater, half mit seiner Technik meiner Technik auf die Sprünge, und ich flimmerte in Farbe bei Dir ein. Das Bild gefiel ihm, aber er wollte mehr, nicht nur eine Fotografie. Ich wollte ihn auch sehen, aber diesen besonderen Reiz des Vertrauten Fremden wollte ich auch nicht verlieren. Zwei Wünsche, die sich auf Dauer nicht vereinbaren ließen, und vielleicht schlummerten in einem Treffen neue Reize. Also planten wir unser erstesTreffen. Wir planten es für Ende September, an einem Papa Wochenende, zumindest Papa Claaßen Wochenende. Und wo? Bei ihm natürlich, erklärte ich sehr spontan, und beeindruckte ihn damit. Aber meine Gründe waren nicht nur edler Natur. Zu gehen ist angenehme rals vor die Türe zu setzen, und ich wusste ja nicht, was mich erwartete. Vielleicht war er ein Jacket getarnter Mister Hyde. „Du gibst mir die Telefonnummerund Adresse von dem Typ, damit ich wenigstens weiß, in welchem Garten ich buddeln muss, wenn du nicht zurückkommst!“ sagte meine praktisch veranlagte Freundin Astrid. Meine Freundin Ulrike hingegen kramte in ihrer Handtasche, drückte mir eine Dose in die Hand, und flüsterte: „Wenn es brenzlig wird, einfach ins Gesicht sprühen und abhauen!“ Die Dose stürzte mich in einen inneren Zwiespalt. Was wäre, wenn sie plötzlich ungewollt explodierte? Ich steckte sie in meine Tasche, holte sie wieder heraus, steckte sie wieder hinein, und ließ sie schließlich zu Hause. Astrid gab ich aber seine Telefonnummer, das war unverfänglich und konnte nicht unverhofft in die Luft gehen. Aufgeregt war ich, sehr aufgeregt. Kindisch kam ich mir vor. Schließlich war ich über vierzig und benahm mich wie ein liebeskranker Teenager. Dabei hatte ich das Objekt meiner angeblichen Verliebtheit noch nie gesehen. Lauter Hirngespinste! In der Woche vor unserem Treffen litt ich unter permanentem Bluthochdruck und Schweißausbrüchen. „Er hat so eine schöne Stimme und er schreibt tolle Briefe“, schwärmte ich meiner Kollegin Kati vor, die einschlägige Interneterfahrungen und Reinfälle durchlittenhatte. „Genieße die Stimme und die Briefe, solange du ihn noch nicht gesehen hast!“ riet mir die Erfahrene. Also genoss ich seine Stimme, und seine Briefe! Ach ja, die Briefe! Mitunter wurde ich hellrot beim lesen und dunkelrot beim schreiben. Papier, auch elektronisch verpacktes, ist geduldig, so geduldig! Eine Woche vor unserem Treffen feierte mein Sohn, mein Michel Kind, seinen achten Geburtstag. Astrid, die Gute, hatte ein Indianerfest für ihn vorbereitet, und die Fete fand in Schornsheimstatt. Ich sorgte für die Verpflegung, Astrid und Kathrin belustigten die Indianer. Während die Schnitzeljagd tobte, und ich mit Markus den Grill anwerfen sollte, erklärte ich dem Verblüfften, dass ich noch etwas vergessen habe, und schnell und kurz nach Hause fahren müsse. Ich hatte aber nichts vergessen, ich wollte rasch auf sein Seemannsbild schauen, und nach Post von ihm gucken. Er enttäuschtest mich nicht! Hellblau wie immer glänzte mir sein T-Shirt entgegen, und auch ein Brief wartete auf mich. „Ob ich mit Markus am flirten sei, “ fragte er, und ich flirtete mit ihm in ungehemmter Marnier. Mittlerweile konnte ich es kaum abwarten, ihn zu sehen, setzte dich aber auch auf den äußersten Rand des Sprungbrettes. Er schwebte über tiefen Gewässern, dass ER nicht schwimmen konnt, wusste ich noch nicht. Die Tage vor unserem Treffen dehnten sich so lange wie diese Vorrede. Klebrig wie Kaugummi hafteten sie an mir und wollten nicht vergehen. Aber schließlich mussten sie sich in das Rad der Zeit einordnen, und das Wittgensteiner Phantom rückte näher. Wenn ich nun schon Astrid erwähnte,die mich aus Gärten oder Felder buddeln, und Ulrike, die mir ein Pfefferspray mitgeben wollte, und Kati, die mir den Wolkensturz prophezeite, darf Birgit nicht vergessen werden, die auch ihren kleinen, aber bedeutungsschweren Beitrag zu unserem ersten Treffenleistete. Gründlich und sorgfältig bereitete ich mich auf diesen Tag vor, und wollte natürlich nicht mit leeren Händen bei ihm erscheinen. So überlegte ich mir, was ihn erfreuen könnte und war schnell fündig. Eine Flasche roten, trockenen Weines, ein Bekehrungsversuch für den eingefleischten Biertrinker, der mir bis heute nicht gelungen ist, und ein Buch wollte ich ihm mitbringen. Ein ganz besonderes Buch sollte es sein. Ich wollte die Geschichte der Kirschkernspuckerbande, eines meiner Lieblingsbücher, in dem manTränen lachen und Tränen weinen kann, schenken. Das Buch war bestellt, konnte abe rvon mir nicht abgeholt werden, da unser Oppenheimer Buchladen nur morgens geöffnet hatte. Morgens war ich aber bei der Arbeit. So beauftragte ich Birgit, das Buch für mich abzuholen, was sie auch bereitwillig tat, und ich holte es am Freitagabend bei Birgit ab. „Für wen ist das Buch denn?“ wollte Birgit wissen. Und auch die halbpubertären Kinder, und der mit viel Scharfsinn und Ironie gewürzte Ehemann, zeigten sich interessiert an dem Empfänger der Kirschkernspuckerbande. Nun hatte ich aus ihm wahrlich kein Geheimnis gemacht, aber durch Astrid, Ulrike und Kati waren mir bereits Waffen und gute Ratschläge zugeeilt, und gerade jetzt wollte ich Dich für mich behalten. So erzählte ich der wiss begierigen Familie Horcher von einer Arbeitskollegin, die im Krankenhaus läge,und der ich morgen, am kinderfreien Samstag, Kirschkern spuckende Zerstreuung bringen wollte. Meine Moral war auf den Tiefpunkt gesunken, und ich log hemmungslos. Aber um meinen guten Ruf nicht unter den Rädern liegen zu lassen, sei hier gesagt, dass ich, als Birgit sich einige Tage später nach dem Wohlbefinden der kranken Kollegin erkundigte, vom kerngesunden Eckhard berichtete. Wobei das nicht ganz richtig war.Seit Wochen plagte ihn eine hartnäckige Erkältung. Also war es in gewisser Weise doch ein Krankenbesuch. Aber ein ganz besonderer. Ich war früh aufgestanden, an diesem Samstagmorgen, hatte mich sorgfältig angezogen, meine Geschenke wohl verpackt, und mich in meinen neuen, gebrauchten Ford-Astra gesetzt. Wegweiser lagen griffbereit neben mir, und nun konnte es losgehen. Wie oft ich im Laufe der Jahre diesen Weg gefahren bin, ist gewiss nicht zu zählen. Und immer wenn ich am Gambacher Kreuz die Autobahn wechsle, denke ich an diese erste Fahrt. Das Gambacher Kreuz erschien mir wie ein Nadelöhr, und wenn ich zurück denke, sehe ich bei dieser ersten Fahrt die Sonne aufgehen. Vielleicht sind das aber Hirngespinste, denn der heiße Sommer war in einem trüben, kühlen Herbst verschwunden. In mir ging die Sonne auf, nicht nur weil ich ihm näher rückte, sondern weil ich sicher auf der richtigen Autobahn gelandet, und die Gefahr, in Kassel oder Hannover zu enden, die er mir prophezeite, gebannt war. „In Dillenburg musst du abfahren“, hattest er gesagt, und ich fuhr beinahe an Dillenburg vorbei, so euphorisch triumphierte ich über meinen gelungenen Autobahnwechsel. Aber fast schief gegangen, ist ganz gelungen. Richtung Frankenberg und dann immer geradeaus, und du kannst mich unterwegs mal anrufen. Das wollte ich tun, fand aber keine passende Telefonzelle, schließlich hielt uns das Handyzeitalter bereits fest im Griff, und ich war und bin ein notorischer "Handynichtbenutzer". Heute besitze ich zumindest einHandy, aber so wenig wie aus ihm ein leidenschaftlicher Rotweintrinker geworden ist, wurde aus mir auch kein überzeugter Handynutzer. Meistens ist es leer, oder befindet sich gerade dort, woi ch mich nicht befinde. Damals besaß ich kein Handy, auch meineKinder nicht, wir waren ein komplett handyfreier Haushalt. Mich zu bekehren hatte er längst aufgegeben, und das erste Handy, das er mir schenkte, versandete irgendwo im Gimbsheimer Freibad. Dennoch sollten Handys in unserer neu geborenen Beziehung eine große Rollespielen, aber jetzt müssen sie erst mal draußen bleiben. Noch war sie ja nicht geboren, die Beziehung, steckte aber bereits im Geburtskanal und drängte nachdraußen. Zunächst aber fuhr ich, beharrlich und unbeirrt meinem gestreckten Ziel entgegen. Niederlaasphe und die Unfallkurve lagen bereits hinter mir, und das Ortsschild Bad Laasphe leuchtete mir entgegen. Er würde ziemlich versteckt wohnen, hattest er gesagt, und er könnte auch ab der VW Werkstatt, die gut sichtbar an der Hauptstraße liegt und nicht übersehen werden kann, auf mich warten. Seinem Gebaren nach, hätte ein Maulwurf mehr Chancen am Nordpol anzukommen, als ich in seiner schnuckeligen Kellerwohnung. Aber ich belehrte ihn eines besseren. Um kurz vor neun Uhr drückte ich den Klingelknopf mit der Aufschrift „Eckhard Spies“ und hörte schnelle Schritte, die Türe öffnetest er langsam und bedächtig, und sagte, was er mir auch bei unserem zweiten Telefonat sagte: „Mit dir habe ich noch nichtgerechnet!“ Ich sah ihn an, und das Bild des Seemannes zerfloss. Das Bild war mir so vertraut, und an den lebendigen Eckhard musste ich mich erst gewöhnen. Obwohl er noch nicht mit mir gerechnet hatte, war der Kaffee gekocht, und der Tisch bog sich unter den aufgetürmten Köstlichkeiten. Wir wollten zuerst frühstücken und dann wandern. „Laub unter unseren Füssen rascheln lassen!“ Wir frühstückten lange und ausdauernd, und hatten uns viel zu erzählen. AufkommendeVerlegenheitspausen überbrückten wir mit unseren Kindern. Seine Kinder hingen an der Wand, zum Glück nur in Bildformat, und ich präsentierte ihm die Indianer der Geburtstagsparty. Dann schmierte er liebevoll Brote, verpacktest kleine Leckereien, auch Obst und Getränke hatte er besorgt, und wir fuhren zum Wittgensteiner Schloss, ein imposantes, zur Schule umfunktioniertes Gebäude, in dem Jahre späte rmein Sohn sein Unwesen treiben sollte. Unser Weg führte durch den Wald, einen dicht stehenden Nadelwald, der etwas gespenstisch märchenhaftwirkte. Wir ließen die Nadeln unter unseren Füssen knirschen, kehrten in einer Gaststätte zum Kaffeetrinken ein, verzehrten unseren Proviant, und fühlten es wohlig und leise knistern. Zum Chinesen wollte er micheinladen, und ich ließ mich zum Chinesen einladen, und wollte danach direkt nach Hause fahren. Ob ich nicht bleiben wolle, ich könnte auch in seinem Bett schlafen, er würde die Couch nehmen, schließlich ist es ja eine Zweizimmerwohnung, so hätte jeder ein Zimmer für sich, und wir könnten den mitgebrachten Wein kosten. Verlockend war dieser Gedanke, leichtsinnig erschien er mir nur kurz. Aber mein kinderfreies Wochenende ging bis Montagmorgen. So blieb ich und wir probierten den mitgebrachten Wein, der ihn als Weinverächter, zumindest Nichtliebhaber entlarvte. Weingläser waren seinem Inventa rverborgen, und ich war schon froh, dass wir ihn nicht aus Weizenbiergläsern oder Zahnputzbechern schlürfen mussten. Also tranken wir Wein aus Wassergläsern und setzten fort, was wir schon den ganzen Tag taten: Wir erzählten uns unser Leben. Dann bereitete er sich sein Lagerauf der Couch, überreichte mir sein blaues T-Shirt, das nach ihm und Weichspüler roch, und überlies mir sein Bett. Da lag ich nun in seinem Bett, und fühlte mich leicht und beschwingt. Am nächsten Morgen überraschte er mich mit frischen Brötchen und der Bildzeitung. Ein Bildzeitung Leser! Vielleicht sollte ich jetzt doch besser gehen, überlegte ich, und blieb. Eine Woche später musste ich mir doch tatsächlich die erste Bildzeitung meines Lebens kaufen! Einen Lottoschein hatte er mir geschenkt, und um meinen Gewinn zu erlesen, musste ich mir eben das von ihm so hoch geschätzte, informative und neutrale Blättchen zulegen. Aber zunächst wollte er mirSiegen zeigen, mit mir durch die City Galerie schlendern und ein Eis essen. Wir fuhren nach Siegen und das Knistern wurde stärker, war fast schon zu hören. Ob er meine Hand halten dürfte,fragtest er, und ich gab ihm meine Hand und wir schlenderten Hand in Hand durch Siegen, aßen Hand in Hand ein Eis, fuhren Hand in Hand zurück in seine Wohnung, und taten, was man Hand in Hand so tun kann. Und da man so viele Dinge Hand in Hand erledigen kann, rannte uns die Zeit davon, und wir merkten plötzlich, dass der Tag sich längst verabschiedet hatte. Aber wir wollten uns noch nichtverabschieden. Und weil man sich Hand in Hand so schlecht trennen kann, fuhren wir gemeinsam nach Dillenburg zu McDonalds. Aber dann gab es kein aufschieben mehr, ich musste zurück nach Oppenheim, und er zurück in seinen Alltag. Meine Nachtblindheit machte mir zu schaffen, und ich erreichte Oppenheim erst im Morgengrauen. Ich erreichte Oppenheim mit diesem flimmern, das bis heute nicht verflogen ist.
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